Der Kuenringerweg 611 ist ein 77 km langer Wanderweg durch das Waldviertel und führt von Groß Gerungs über Zwettl und Allentsteig nach Raabs an der Thaya.

Der zarte Kartoffelteig schmilzt in meinem Mund und mischt sich mit der süßen und saftigen Mohnfülle. So ein Waldviertler Frühstück mit Mohnzelten kann was! Gesättigt zieht es mich aus dem Café Weingartner hinaus in den Sonnenschein. Der Kuenringerweg 611 soll in den nächsten Tagen von mir entdeckt werden. Der REX 4 und die Busse 170 und 736 haben mich nach Groß Gerungs gebracht. Auch eine andere Frau mit Rucksack macht alle Umstiege mit. Haben wir gar die gleichen Pläne? Nein, sie geht den Eisenwurzenweg (Österreichischer Weitwanderweg 08) und setzt ihre Wanderung ab Groß Gerungs Richtung Süden fort. Ich starte vom Hauptplatz nach Nordosten.
Das Geschlecht der Kuenringer wurde im 12. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt. Über 450 Jahre lang forcierten sie als hohe Beamte mit Besitzungen im Waldviertel und der Wachau und viel Einfluss bei den Babenbergern, die Entwicklung von Niederösterreich und dessen Besiedelung. Groß Gerungs gehörte zum Stammgebiet der Kuenringer. Zwettl beheimatete einst eine Burg der Kuenringer, die aber alsbald zerstört wurde. Hadmar I. von Kuenring gründete 1137 das heutige Stift Zwettl. Die Besitzungen in Allentsteig wurden von den Babenbergern an die Kuenringer geschenkt und auch die Burg in Raabs an der Thaya war kurzzeitig ein Lehen der Kuenringer. Wer also am Kuenringerweg unterwegs ist, kann den Kuenringern nicht entkommen.
Zurück in Groß Gerungs. Der Pranger mit seinem Schwert-schwingenden Arm erregt noch kurz meine Aufmerksamkeit, doch schon geht es am Kinoverein vorbei hinaus aus der jungen Stadt, die 2024 ihren 41. Geburtstag feiern konnte. Obwohl es schon um die Mittagszeit ist, gibt es Anfang November in schattigen Nischen noch Reif anzutreffen. Der Weg führt abwechselnd über Felder und Wiesen, teilweise auf Asphalt, und zwischenzeitlich durch unvermeidliche Fichtenmonokulturen. Die Paulsensteiner Kapelle finde ich verschlossen vor. Im Wald liegen überall große, bemooste Granitbrocken verstreut umher. Ein Schild kündigt den Restling „die Weltkugel“ in 30 Minuten abseits des Weges an, den steinernen Globus lasse ich aber aus. Ein mächtiger alter Baum liegt entwurzelt und zerkleinert am Straßenrand und zeugt von den verheerenden Unwettern von Mitte September. Der alte Baumbestand des Naturdenkmals Röhrenteichallee kurz vor Schloss Rosenau trotzte den Stürmen und prachtvolle Sommerlinden, Stieleichen und Rosskastanien säumen die Straße.
Schloss Rosenau liegt zu dieser Jahreszeit recht verlassen da. Das Hotel ist geöffnet, das Restaurant hat Ruhetag und das Freimaurermuseum hat mit Ende Oktober seine Pforten geschlossen. Nichtsdestotrotz hat man eine Melange, einen Apfelstrudel und einen Stempel für mich und ich kann bald weiterziehen. Hier bei Schloss Rosenau treffe ich auf ein wahres Meer an Wegweisern – von wegen „alle Wege führen nach Rom“, sie führen ganz offensichtlich ins Waldviertel! Und stets bestens markiert und beschildert! Wer will, hat hier also wirklich viele Möglichkeiten zu Fuß zu gehen.
Das sanfte Licht der aktuellen Saison verpasst der Landschaft einen Weichzeichner. Die langen Schatten und saftig-grüne Wiesen zaubern hübsche Symmetrien in die Natur. Die gelbe Kirche von Guttenbrunn leuchtet mit dem blauen Himmel um die Wette. Der Weg führt entlang der Zwettl durch Mischwald und das Rascheln des Laubs unter meinen Füßen ist wie eine spätherbstliche Meditation. Gar nicht entschleunigend sind die Spuren des Hochwassers von vor 6 Wochen. Die nun ganz harmlos und schmal dahinfließende Zwettl muss weit über die Ufer getreten sein. Schwemmgut hängt jetzt noch in einiger Höhe an den Ästen und Zweigen. Der Rasen des Zwettltal-Stadions ist nicht mehr und tiefe Schotterfurchen durchziehen den früheren Fußballplatz. Die Zwettler Promenade ist für Fußgänger wegen der Aufräumarbeiten noch gesperrt. Die höher gelegene Stadt hat keinen Schaden genommen. Im Stadtmuseum gäbe es in der wärmeren Jahreszeit einiges zu sehen. Ich aber muss nun meine Wanderung unterbrechen und nehme Bus und Zug zurück nach Wien.
Nach 2-tägiger Pause setze ich meinen Weg später als geplant fort, denn der Zug aus Wien kam in Krems mit Verspätung an und mein Anschlussbus war schon weg. Die Wartezeit auf den nächsten Bus vertreibe ich mir ganz und gar nicht unangenehm in einem bequemen Lehnsessel der Café-Konditorei Raimitz gegenüber dem Bahnhof. Eine Busfahrt später spaziere ich in Zwettl wieder zur Bürgerspitalskirche St. Martin hinauf und die Hamerlingstraße Richtung Norden – ich verlasse die Braustadt entlang der Gradnitz auf verwachsenen Wegen und gelange bald in den gleichnamigen Ort.
Dichter Nebel hat sich heute über das Land gelegt und das Thermometer zeigt knackige 4°C. Ich wandere über Feld- und asphaltierte Wirtschaftswege und kann Motorenlärm hören. Die Geräusche kommen näher, nach und nach taucht der Umriss eines Traktors am Feld auf – viel Panorama werde ich heute wohl nicht sehen. Ich passiere Großhaslau und vernehme wieder Lärm, diesmal von einem Zug, aber das kann gar nicht sein, ist doch die Bahnlinie in meiner Karte als „stillgelegt“ eingetragen.
Im Gerotter Wald treffe ich auf Fichten, die sich mit ihren feschen Moosschuhen richtig in Schale geworfen haben. Ich komme am ehemaligen Bahnhof Großglobnitz vorbei – er ist eindeutig aufgelassen, kein Zweifel darüber. Die nächsten Orte: Germanns und Hörmanns – vor der Wanderung noch nie gehörte Namen.
Das Gasthaus „Zum Walther von der Vogelweide“ hat geöffnet und auch einen kleinen Imbiss für mich. Die Wirtschaft wird von zwei älteren Damen betrieben. Sie versorgen nicht nur mich, sondern auch die allgegenwärtigen mittagsschoppenden Herren, die mich verwundert anschauen, sich aber nicht trauen, mich anzusprechen. Das Lokal hat seine Einrichtung in den 50er Jahren angeschafft und stets gut instandgehalten. So findet man hier noch eine originale Kegelbahn aus dieser Zeit und Tische mit Resopalplatten. So mancher Vintage-Händler würde dafür schon einiges bezahlen. Auf der Vitrine bei der Schank entdecke ich einen Aufkleber von der 1981 (!) stattfindenden Landesausstellung „Die Kuenringer und das Werden des Landes NÖ“ – da sind sie also wieder! Die ältere der beiden Damen fragt mich mit Sorge, ob ich denn alleine unterwegs sei. Ja, das bin ich. Eigentlich wandere ich sehr gerne in Gesellschaft. Von Zeit zu Zeit aber ist das Alleine-Gehen eine willkommene Gelegenheit, meinen Gedanken mit ausschweifend viel Zeit nachzuhängen. Das tut mir und meinem Umfeld gut.
Gestärkt verlasse ich das Wirtshaus und komme zum Ortsanfang von Hörmanns. Oberhalb des Ortsschilds prangt eine Tafel „Fahrverbot für Panzer“. Wie gut, dass ich heute ausnahmsweise nicht mit meinem Panzer unterwegs bin. Erleichtert, mit dem „zu-Fuß-gehen“ die richtige Entscheidung getroffen zu haben, wandere ich durch den Ort und bald aus diesem hinaus.
Wieder höre ich eindeutig Lärm von einem herannahenden Zug. Diesmal bin ich aber den Gleisen ganz nah und sehe im Nebel einen Güterzug auftauchen und wieder verschwinden. Ein Geisterzug? Wikipedia verrät mir, dass auf der Zwettler Lokalbahn Ende 2010 der Personenverkehr eingestellt wurde, der Güterverkehr zwischen Schwarzenau und Waldhausen aber noch unterwegs ist – das kann ich bestätigen! Beruhigt, nicht Zeuge eines paranormalen Phänomens geworden zu sein, ziehe ich weiter und komme alsbald an einer roten, hohen Metallfläche vorbei aus der das Wort „Walthers“ gestanzt wurde. Ratlos gehe ich weiter und komme schließlich zu einem Gedenkstein für Walther von der Vogelweide. Eine überdachte Tafel gegenüber dem Gedenkstein möchte glauben machen, dass es klare Hinweise dafür gibt, dass Walther von der Vogelweide hier aus der Gegend stammte und das Dorf „Walthers“ von ihm gegründet wurde. Sollen sich andere über den bekannten Minnesänger des Mittelalters Gedanken machen, ich marschiere weiter, passiere bald Bernschlag und komme am Zwinzenbach entlang nach – Überraschung – Zwinzen. Dort wird das in Massen vorbereitete Brennholz für den Winter vor Diebstahl geschützt. Die Scheiter werden nicht etwa angekettet oder hinter einen Zaun gesperrt. Ein Graffitikünstler hat sich auf der obersten Holzreihe verewigt. So fällt jedes Abhandenkommen auf, aber ob das Langfinger auch wirklich abhält?
Die Straße hinaus aus Zwinzen ist „wegen Hochwasser-Schäden gesperrt“. Ich hoffe, dass das nur für Fahrzeuge gilt und wandere tatsächlich ungehindert bis Allentsteig, wo ich mir bei der Konditorei-Bäckerei Fischer was Süßes gönne, den derzeit natürlich leeren Storchenhorst am Bäckerei-Dach bestaune, noch eine Runde im Ort drehe und letztlich im nüchternen, unpersönlichen und kalten Apartment (W4 rooms) am Siedlungsrand für heute ankomme.
So mutterseelenalleine in diesem riesigen Haus verbringe ich eine unruhige Nacht und bin froh, dass ich im Morgengrauen wieder aufbrechen kann. Die Tage sind schon deutlich kürzer und die Luft ist frisch und kühl. Der Nebel ist noch dichter als gestern und lässt Schloss Allentsteig trotz hellerleuchteter Fenster wie ein gruseliges Gebäude aus einem düsteren Horrorfilm erscheinen. Zu meiner Erheiterung tragen immerhin die Wegweiser mit den Richtungsangaben „Natur“, „Natur und Kultur“ und „Eichen und Eulen“ bei – ja es gibt sogar einen Wegweiser zum „Bundesheer“ und alle genannten Wege haben sogar Nummern.
Ich verlasse das Gemeindegebiet Richtung Norden. Die starken Stürme haben auch hier 3 Eichen mit enormem Durchmesser über den Thauabach – auch „Kleine Thaya“ genannt – geworfen. Der Weg ist teilweise schon recht verwachsen und ich komme langsamer voran als gedacht. In Thaua überquere ich die Franz-Josef-Bahn und überlege kurz, ob ich im dichten Nebel meine Wanderung fortsetzen möchte oder mich nicht vielleicht doch lieber, in einen bequemen Sessel gekuschelt, vom Zug nach Hause schaukeln lassen möchte. Ich entscheide mich für den Nebel.
Es geht über Felder und wieder einmal durch Fichtenmonokulturen. Der Nebel ist stark genug, dass es von den Bäumen tropft. Mitten im Nichts tauchen Warnschilder auf, die mich über die drohende Lebensgefahr beim Weitergehen informieren. Der Kuenringerweg verläuft hier an der Grenze zum sogenannten TÜPL – Truppenübungsplatz Allentsteig, also ein militärisches Sperrgebiet und das Betreten ist für Zivilisten natürlich nicht erlaubt. Das fast 160 km² große Sperrgebiet wurde 1938 als Übungsraum für die Wehrmacht angelegt – 42 Dörfer mit fast 7.000 Menschen wurden in den nächsten 4 Jahren ausgesiedelt. Anfänglich stellte man noch Ersatzhöfe zur Verfügung, später wurden die Menschen mit geringen Abfindungen mehr oder weniger vertrieben. Genaueres darüber erfährt man im Aussiedlermuseum im Schüttkasten von Allentsteig – aber natürlich nicht im November (Wintersperre). Da das Gebiet seit Jahrzehnten sehr isoliert ist, hat sich hier ein einzigartiger Naturraum mit seltener Flora und Fauna eingerichtet – selbst Seeadler und Wölfe soll es hier geben. Die lassen sich offensichtlich von den hier jährlich übenden 30.000 Soldat*innen nicht stören. Ich möchte weder dem Militär noch einem Isegrim begegnen und wandere in Gedanken versunken am 611er weiter. Wie hat sich das angefühlt für die Menschen damals, als sie ihre Häuser verlassen mussten, damit das Heer hier eine Spielwiese bekommt?
Die Kilometer fliegen dahin. Nach Scheideldorf geht es am Radweg auf der alten Trasse der ehemaligen Lokalbahn Göpfritz-Raabs dahin und durch Fichten hinauf nach Georgenberg, bald durch Götzles und an einem Gedenkstein für eine ehemalige Kirche vorbei. Die Bründlkapelle ist leider versperrt und so beginne ich ohne Pause den Aufstieg zum Predigtstuhl auf 718m Seehöhe. Der imposante Gesteinsbrocken am Gipfel beeindruckt an diesem Tag nicht nur mich – zwei weitere Wandernde hat es hierher verschlagen. Auch sie haben gehofft, dass der Nebel sich im Laufe des Tages lichten und die Eis- und Schneereste schmelzen werden. Und tatsächlich bricht die Sonne mittags endlich durch! Eine Stunde später hat sich der Nebel komplett verzogen und das Land wärmt sich im Sonnenschein auf. Vom Predigtstuhl hinunter geht es durch von Forstarbeiten geprägtes Gebiet bis sich bald darauf der Weg verliert (oder ich ihn verliere?) und ich mich durch hüfthohe Brombeerstauden und Gräser kämpfe – eine Machete sollte man eigentlich immer dabeihaben.
In Wienings kehre ich beim Gasthaus Schimmel ein – natürlich gibt es mittagsschoppende Männer, denen wenig einfallsreich bei meinem Anblick nur „Das Wandern ist des Müllers Lust“ über die Lippen kommt. Zu Essen gibt es nichts – nach einem Getränk und doch noch ein paar Worten mit den Gästen geht es weiter durch den Ort, wo man das Kaiser-Franz-Joseph-Museum besuchen könnte, wenn man nicht wie ich zu früh dran wäre. Über schönste Feldwege und bei eisigem Wind gelange ich nach Weinern zur schönen Backsteinkirche und über Wiesen und Feldwege schließlich nach Raabs an der Thaya.
Hoch oben am Felsen thront die Burg Raabs über dem Tal, während zu ihrem Fuße die Thaya ruhig dahinfließt. Käme man zeitiger in die Stadt, könnte man dem Grenzlandmuseum noch einen vermutlich lohnenden Besuch abstatten. Ich aber bin jetzt an meinem Ziel angekommen. Im Stadthotel Raabs schließt sich für mich bei einer Mohntorte zu meiner Melange der Kreis. Das Waldviertel ist immer eine Wanderung wert – nicht nur wegen der wunderbaren Mohn-Mehlspeisen!